Der Wanderer, unvollendetKapitel I: Vater Staat „Es war einmal eine kleine Stadt. In der Stadt lebte ein gemütlicher, reicher Mann, den alle Vater Staat nannten. Vater, weil er wie ein Vater für die Gemeinde war und Staat, weil ihn seine Eltern auf diesen Namen hatten taufen lassen. Vater Staat hatte drei Schwestern: Gutherzigkeit, Edelmut und Gerechtigkeit. Da Vater Staat so ein gemütlicher Mann war, überließ er den Schwestern die Verwaltung der Gemeinde. Er erschien nur bei öffentlichen Anlässen und setzte ab und an seine Unterschrift unter diverse Dokumente, von denen die Schwestern ihn baten sie zu unterschreiben, weil es ihnen ja, da sie Frauen waren, nicht gestattet war eine Stadt zu verwalten. So kam es, dass das Volk dachte, Staat würde all die guten Dinge bewirken, obwohl er doch nur ein gemütlicher, reicher Mann war und mit all diesen Dingen nichts zu tun hatte. Dennoch wusste Vater Staat die Taten seiner Schwestern zu schätzen und er liebte sie vom ganzen Herzen. Als die drei bei einem Brand ums Leben kamen, war er zu Tode betrübt und vegetierte nur noch so vor sich hin. Da die Bürger dem Vater sehr wohl gesonnen waren, überlegten sie, was sie für ihn tun könnten. Er brauche Gesellschaft, meinte jemand. Und so kam es, dass Vater Staat Frau Lüge vorgestellt wurde. Sie schien eine sehr nette Dame zu sein und schon bald heirateten die Beiden einander. Weil Vater Staat noch immer nichts mit der Verwaltung der Gemeinde zu tun haben wollte, übergab er sie an seine Frischvermählte. Frau Lüge log und trog, so dass sich die Balken bogen und zum Schluss bekam sie immer das was sie wollte. Ein gutes Jahr später gebar sie eine Tochter. Sie nannten sie Gier. Gier liebte glitzernde Sachen und schon im zarten Kindesalter wusste sie komplizierte Rechenaufgaben zu lösen. Als sie dann weiter heranwuchs, meinte sie zu Vater Staat, sie wolle in Gold und Silber baden. „Dann hol es dir“, meinte er nur mürrisch, da er gerade ruhen wollte. Gier machte sich auf und trieb überall in der Stadt hohe Steuergelder ein. Die Bürger bezahlten, doch nicht ohne zu murren. Als Gier es immer bunter trieb, schrie die Gemeinde auf und die Zahlungen blieben hin und wieder aus. Das erzürnte Gier sehr, wusste sie doch nicht, wie sie nun an das viele Gold und Silber kommen sollte, welches sie so dringend benötigte. Da lernte Vater Staat Herr Gewalt kennen. Er setzte dem Vater Flöhe ins Ohr und sagte, dass die Bürger immer aufständischer werden würden und dass man dies unterbinden müsse. Vater Staat nickte nur langsam und übertrug Herrn Gewalt die Verwaltung der Stadtwache. Nach solch anstrengender Arbeit legte sich Staat erst einmal gemütlich hin und schlief ein wenig. Herr Gewalt jedoch stattete seinen Trupp mit immer größeren und gefährlicheren Waffen aus und ließ die Bürger in ihre Häuser zurückscheuchen. Wenn nötig auch mit Waffeneinsatz. So kam es zu manch blutigen Gemetzel. Frau Lüge log und trog, Gier trieb weiterhin ihre Steuern ein und Herr Gewalt wütete wie es ihm gefiel. Doch Vater Staat bekam von all dem nichts mit, denn mit den Jahren war er immer gemütlicher geworden. Das Volk jedoch war ausgehungert und blutete aus Dutzenden von Wunden. So kam es, dass sich eines Nachts die Bürger vor dem Hause Vater Staats bewaffnet zusammenrotteten. Die Wachen waren den Bürgern in ihrem Zorn kein Hindernis mehr und so drangen sie bis zu Vater Staat vor, rissen ihn aus seinem Bett, in dem er gerade so gemütlich lag, stachen ihm die Augen aus und verbannten ihn aus der Stadt. Frau Lüge, Herr Gewalt und Gier hatten diese Revolte beobachtet und verkrochen sich für einige Wochen. Doch als das Leben wieder seinen gewohnten Lauf nahm, kamen sie aus ihren Löchern und übernahmen die Verwaltung der Gemeinde wieder und sie lernten noch viele, viele Freunde kennen.“ Der Geschichtenerzähler, ein alter, weiser Mann, lehnte sich gemütlich in seinem Schaukelstuhl zurück und stopfte sich langsam und gemächlich eine seiner Pfeifen. Der Mann trug einen langen Bart, in dem ein Vogel gemütlich hauste. Auf des Mannes Nase ruhte ein goldener Zwicker, der ihm, wenn er redete, auf der Nase lustig auf und ab hüpfte. Manchmal fanden sich die Dorfkinder, die ihn liebevoll „Herr Zwicknase“ nannten, bei ihm ein und baten um eine Geschichte. Natürlich war der alte Mann nie um ein Märchen verlegen, denn er kannte Tausende und Abertausende. Eigentlich erfand er Tausende und Abertausende Geschichten. Ja, er konnte selbst einer Tasse leben einhauchen und sie auf gefährliche und lehrreiche Reisen schicken. Auch wenn er die Kinder gerne an seiner lebhaften Märchenwelt teilhaben ließ, so redete er doch lieber mit dem Vogel, der in seinem Barte hauste. Denn der Vogel war ein sehr guter Zuhörer und geriet der Held der Geschichte einmal unversehens in Gefahr, so sprang der Vogel vor Aufregung so wild auf und ab, dass er zumeist aus dem Bart herauspurzelte. Der Mann pflegte dann stets vor Vergnügen laut zu lachen und den Vogel in seinen Bart zurückzusetzen, damit die Geschichte weiter gehen konnte. Auch heute war der Vogel an der Stelle, als die Bürger dem gemütlichen Vater Staat die Augen ausstachen, aus dem Bart gefallen. Herr Zwicknase musste so laut lachen, dass die Gläser klirrten. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, nahm er den Vogel hoch und setzte ihn in seinen Bart zurück. Dort räkelte sich der Vogel genüsslich und meinte: „Und wie ging es weiter?“ Der alte Herr Zwicknase runzelte die Stirn. „Wie ging was weiter?“ fragte er verstört. „Na, mit dem Herrn Vater Staat“, fiepte der Vogel, „Wo ist er hingegangen, blind wie er war?“ „Nun, das ist eigentlich eine andere Geschichte und ich bin müde. Ich werde sie dir morgen erzählen.“ Doch der Vogel bettelte und bettelte, bis sich Herr Zwicknase schließlich erweichen ließ. „Also schön, du kleiner Taugenichts“, sagte er, „aber nur noch diese eine Geschichte, danach wird geschlafen.“ Der Vogel nickte eifrig, setzte sich im Bart zurecht und spitzte die Ohren. „Vater Staat irrte viele Tage und Nächte im angrenzenden Wald umher. Er aß Gras und Blätter und wenn er Glück hatte, stolperte er in ein Brombeerenstrauch. Er schlief dort wo er gerade umfiel und war so den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert. Doch gefressen wurde er nicht. Nur eine Bergziege wagte es einmal an seinen Zehen zu knabbern. Da sprang der blinde Vater Staat auf und schrie laut und gebarte sich auch sonst wie wild, so dass die Ziege verschreckt auf und davon lief. Eines Tages, er war schon viele Tag gewandert fiel er einfach um und stand nicht mehr auf. Wahrscheinlich wäre er gestorben, wäre nicht zufällig ein einsamer Wanderer gerade diesen Weg gelaufen. Der Wanderer fand also Vater Staat, versorgte seine zerstörten Augen, fütterte und wusch ihn. Viele Tage vergingen, bis Staat endlich aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte. Das erste was ihm auffiel war, dass seine Augen nicht mehr schmerzten. Dann nahm er einen fremden Geruch war. Nein, er nahm zwei fremde Gerüche war. Einmal roch er ganz deutlich gebratenes Fleisch und dann roch er noch einen andere Menschen. Nun hörte er ihn atmen. Er war ganz nah, befand sich neben ihm. Verstört wollte der alte Staat zurückweichen und fliehen. Doch da viel ihm ein, dass er gar keine Chance hätte, blind wie er war. Vater Staat hob also nur abwehrend die Hände und bat mit zitternder Stimme: „Tu mir nichts, werter Herr!“ Da lachte der Mann den er nicht sehen konnte hell auf. „Ich mache mir doch nicht die Mühe dich tagelang gesund zu pflegen, um dir dann etwas anzutun. Nun iss erst einmal, du hast es nötig!“ Vater Staat brabbelte etwas Unverständliches und stürzte sich dann auf die wunderbar knusprige Lammkeule die ihm der fremde Wanderer hinhielt. Nachdem sie gespeist hatten fragte der fremde Mann den Herrn Staat, woher er denn käme und was mit seinen Augen passiert und wer er überhaupt sei. Da erzählte Vater Staat dem Wanderer seine Geschichte, so wie ich sie dir vorhin erzählt habe. Der Fremde nickte verständnisvoll, was Herr Staat natürlich nicht sehen konnte. „Nun, mein lieber Herr Staat, da siehst du, was dir deine Gemütlichkeit und dein blindes Vertrauen eingebracht haben. Du kannst mich bis in die nächste Stadt begleiten, wenn du das möchtest.“ „Das wäre sehr nett“, nickte Staat eifrig, „doch wie kann ich dir danken? Ich kenne weder deinen Namen, noch besitze ich Hab und Gut, so dass ich dich nicht einmal für deine Dienste entlohnen kann.“ „Deine Geschichte ist mir Lohn genug“, brummte der Wanderer. „doch meinen Namen will ich dir nicht verraten. Wenn du möchtest kannst du mich den Wanderer nennen. Wie es dir beliebt.“ „Das werde ich tun, Wanderer. Ich danke dir tausendmal.“ Der Wanderer winkte ab, was Herr Staat natürlich auch nicht sah. Nach einer Weile legten sie sich schlafen. Zum ersten Mal seit langem, verbrachte Herr Staat eine geruhsame und ruhige Nacht, ohne die schrecklichen Alpträume, die ihn sonst in den letzten Nächten immer heimgesucht hatten. Am nächsten Morgen, drängte der Wanderer zum Aufbruch. Er nahm einen Strick und knüpfte an dem einen Ende des Seils einen Knoten um Staats Handgelenk und nahm selbst das andere Ende in die Hand. „So musst du nicht fürchten dich zu verlaufen oder zu stolpern“, sagte er und dann zogen sie los. Nach drei Tagen scharfen Wanderns erreichten sie endlich ein kleines Dorf. Dort verhalf der Wanderer Staat zu einem Zimmer, in dem er eine Weile wohnen könne. Herrn Staat liefen beim Abschied Tränen die Wangen herab und ungeschickt fiel er dem Wanderer um den Hals. Nochmals bedankte er sich tausendmal für dessen Edelmut. Dann zog der Wanderer weiter. Und das soll für heute genügen“, schloss Herr Zwicknase. „Was ist aus Vater Staat noch geworden?“, fragte der Vogel ganz aufgeregt. „Das weiß ich nicht, mein lieber Vogel, seine Geschichte endet hier. Aber vielleicht, vielleicht wird er uns im Laufe der Zeit wieder begegnen.“, erwiderte der Alte. „Und der Wanderer? Endet seine Geschichte auch hier?“ „Nein, seine Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Wenn du möchtest können wir ihn morgen auf seiner Reise ein Stück begleiten.“ Da fing der Vogel vor Freude an zu tanzen und zu tschilpen. „Und wie ich das möchte!“, rief er begeistert. Leise schmunzelnd erhob sich der alte Mann. „Jetzt wird geschlafen, lieber Vogel,“ sagte er. „Morgen ist auch noch ein Tag.“ Da kommt noch was hin! So hatte der einsame Wanderer also das Dorf und den alten Herrn Staat hinter sich gelassen. Stundenlang war er schon durch den tiefen, finstren Wald gegangen, als sich dieser unversehens öffnete und sich vor ihm eine riesige Felswand auftürmte. Es wäre zwar nicht unmöglich gewesen diese Felswand zu bezwingen, doch wäre es weder ohne Anstrengung noch ohne Blessuren von statten gegangen. So entschied sich der Wanderer die Felswand zu umlaufen. Er wanderte Stunde um Stunde, Tag um Tag, doch die Felswand wollte einfach nicht enden. Umso neugieriger wurde er, was sich wohl hinter dieser Felswand verbergen mochte und so entschied er sich eben jene zu besteigen. Lange war er schon die Wand hinaufgestiegen, als sich vor ihm eine Höhle öffnete. Tief und dunkel lag sie still vor ihm. In einiger Entfernung, er konnte nicht sagen wie weit, nahm er eine flackernde Lichtquelle war. Womöglich ein Feuer, dachte er und machte sich daran die Höhle zu erkunden. Wieder wanderte er stundenlang, tagelang. Am dritten Tage war er so erschöpft, dass er schon aufgeben und umkehren wollte. Doch wäre das sein sicherer Tod gewesen, denn nochmals drei Tage ohne Nahrung und Wasser hätte er nicht überlebt. So zwang er sich weiter auf den Feuerschein zuzugehen, welcher ohne Unterlass vor sich hin flackerte. Nach einer Weile konnte er mit Sicherheit bestimmen, dass es sich bei der Lichtquelle um ein Feuer handelte. Er kam immer näher. Endlich, nach einem weiteren stundenwährenden Lauf, erreichte er das Feuer und fiel zu Tode erschöpft dort um, wo er gerade noch gestanden hatte. Irgendjemand flößte ihm vorsichtig etwas Wasser ein und fütterte ihn mit einer wohlschmeckenden Brühe. Als der Wanderer nach einer Weile wieder zu Sinnen kam blickte er sich um. Von der Decke hingen Stalaktiten, unhablässlich vor sich hin tropfend, um sich irgendwann in grauer Zukunft mit den aus dem Boden emporgewachsenden Stalagmiten zu verbinden. Das Feuer ließ gespenstische Schatten aufflackern und wieder verschwinden. So gab er sich eine Weile der Betrachtung dieser Höhle hin, als sein Blick an seinem Gastgeber hängen blieb. Er, oder sie, saß im Schneidersitz am Feuer und betrachtete ihn unentwegt. Der Wanderer konnte nicht bestimmen ob es sich hierbei um einen Mann oder um eine Frau handelte. Auch war sie, oder er, weder jung noch alt, weder Kind noch Greis. Dieses Zwitterwesen, in mancherlei Hinsicht, verzog sein faltiges und doch glattes, kindlich altes Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Nun, du einsamer Wanderer, bist du stumm?“, fragte es. Da kehrte der Wanderer aus seinen Gedanken zurück und meinte: „Ich kann nicht sagen ob du nun jung oder alt, hässlich oder schön, Mann oder Frau bist.“ „Genügt dir nicht, dass ich bin, Wanderer?“, sagte es. „Genügen schon, doch treibt mich dein Anblick über kurz oder lang in den Wahnsinn. Deine Gestalt befindet sich im ständigen Wechselspiel, ebenso wie deine Stimme und alles Übrige an dir.“ „In den Wahnsinn treiben möchte ich dich nicht“, sagte es. „Ich werde es dir etwas einfacher machen, mein verwirrter Wanderer.“ Und schon verlangsamte sich das Wechselspiel des Zwitterwesens und der Körper nahm nach einer Weile scharfe Konturen an. Nun sah sich der Wanderer einer wunderschönen, jungen Frau gegenüber, die ihn belustigt musterte. „Mir scheint als würde ich dich nun nur noch mehr verwirren“, sagte die Frau. „Vielleicht hätte ich besser eine andere Gestalt wählen sollen?“ Der Wanderer konnte, ob solcher Schönheit, nur sprachlos den Kopf schütteln.
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