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Evan

BearbeitenHistorie
Alexis hatte Recht gehabt.

Ich hatte mich tatsächlich verändert.
Möglicherweise war ich überarbeitet, möglicherweise wäre es klüger
gewesen, Urlaub zu nehmen und die Seele einfach für ein paar Tage
baumeln zu lassen.
Wahrscheinlich trugen die Unmengen an Kaffee, die ich zu mir nahm,
nicht unwesentlich zu meinem Zustand bei.

Um mich auf andere Gedanken zu bringen entschloss ich mich, spazieren zu gehen.
Eigentlich entschloss meine Frau, dass ich spazieren gehe, während sie
unsere Kinder von der Schule abholte. Ich stimmte widerwillig zu.
Irgendetwas bewegte mich dazu, meine Zigaretten und den Mantel, den
ich wie einen Schutz vor der Außenwelt um mich zu legen pflegte, zu
Hause zu lassen.
Manchmal hasse ich mich für diese kurzen Anfälle von irrationalem
Optimismus, denen ich immer wieder verfalle, obwohl mich die Erfahrung
oft genug gelehrt hat dass ich diese alsbald bereuen würde.
Ich verließ das Haus, schlug die Tür hinter mir zu und blickte in eine
graue, aber keineswegs abweisende Welt. Jedenfalls redete ich mir das
ein.
Die Wolkendecke am Himmel schob sich gemächlich Richtung Osten und
schaffte Platz für die Sonne, die den nassen Boden ein wenig glitzern
ließ. Ein paar vertikale Farbfäden am Horizont ließen einen Regenbogen
erahnen. Das Wetter war nicht gut... aber es war Vorbote für Besseres.
Wahrscheinlich redete ich mir auch das ein.
Ich passierte das kleine Café. „Piccolo" stand da, in geschwungen
Buchstaben, kursiv und mit Serifen. Dieses Café war mein kleines
Geheimnis. Immer, wenn ich Streit mit Alexis habe komme ich hierher,
um einen Milchkaffee und ein Gläschen Amaretto zu trinken.
Die Gedanken waren frei.
Das Café hatte geschlossen.

Mein aufkeimender Frohsinn zerbrach an elf Buchstaben.
Ich weiß, dass es keinen Sinn macht, aber manchmal habe das Gefühl,
dass irgendetwas oder irgendjemand ziemlich großen Spaß daran zu haben
scheint, mir ab und an ein Bein zu stellen.
Was mich allerdings fast wütender macht ist die Art, WIE man mir ein
Bein stellt.
Wahrscheinlich hätte ich es einfach als Willkür abgetan, wenn ich
gestürzt wäre und mir etwas gebrochen hätte. Aber dieser
Detailreichtum, diese kleinen, bedeutungsschwangeren Seitenhiebe,
dieser spitze Hintersinn schürte meine Wut.
Diese fand dabei kein bestimmtes Ziel. Wozu auch. Wenn man bei der
Polizei eine Anzeige gegen „Unbekannt" aufgeben kann, dann ist es mein
gutes Recht, diesen „Unbekannt" zu hassen.
Meine Füße trugen mich durch die Stadt, vorbei am Rathaus und Richtung
Rummelplatz.

Zu meinem Unglück fiel mir erst zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt
auf, dass ein Rummelplatz wohl einer der denkbar ungünstigsten Orte
war, die ich mit meiner schlechten Laune besuchen konnte. Diese
unsägliche Fröhlichkeit.
All die Besucher, die Kinder und Erwachsenen, die lachten während sie
ihre Zuckerwatte aßen, während sie die Achterbahn fuhren und während
sie Tennisbälle auf Dosen warfen gaben mir das Gefühl, alt und
verbittert zu sein.
Eine Coladose, die sich mir in den Weg stellte, trat ich mit voller
Wucht gegen einen Stand, an dem man Lose kaufen konnte.
Wenn man gewann, bekam man ein Stofftier… wenn man verlor, bekam man gar nichts.

Man könnte sagen, ich hätte im „Affekt" gehandelt.
Ich war eben sauer, darum hab ich in die Dose getreten.
Eine herrlich einfache Erklärung.
Dies ist wahrscheinlich die Kehrseite einer Erfindung der Natur, die
prinzipiell einen großen Nutzen hat: Die Abkürzung.
Hiermit meine ich nicht die Abkürzung durch einen Wald oder über das
Feld, sondern vielmehr der direkte Weg einer Synapse vom
Occipitallappen ins Kleinhirn, ohne vorher den langen und
beschwerlichen Weg über den Stirnlappen nehmen zu müssen.
Diese Abkürzung macht prinzipiell relativ essentielle Eigenschaften
möglich, beispielsweise „Reaktionsfähigkeit". Es kann sich als
durchaus günstig erweisen, beim Anblick eines herabfallenden
Felsbrockens nicht darüber nachdenken zu müssen, ob es unter
Berücksichtigung sämtlicher ethischen und moralischen Grundsätzen der
westlichen Welt angemessen wäre, beiseite zu treten.
Auf der anderen Seite kann es jedoch passieren, dass ein Gefühl wie
Zorn oder Wut, vermutlich in Koppelung mit den Überresten eines
Instinkts, vermag, eine eigentlich absolut offensichtliche Schnapsidee
an der Aussortierung durch das Bewusstsein vorbeizuschleusen und
sofort vom motorischen Zentrum in eine entsprechend sinnentleerte
Handlung umsetzen zu lassen.
Hätte ich mir also Zeit genommen um darüber nachzudenken, was für eine
bescheuerte Idee es war, in diese Coladose zu treten, so hätte ich es
mir möglicherweise anders überlegt.
Da ich allerdings in letzter Instanz gar keine Möglichkeit mehr hatte,
über Sinn und Unsinn dieser Handlung nachzudenken blieb mir nichts
weiter übrig, als mit der Tatsache zu leben, dass ich eine Coladose
mit voller Wucht gegen einen Losstand getreten hatte.

Coladosen haben für gewöhnlich die angenehme Eigenschaft, nicht
zurückzutreten, und so verhielt es sich auch bei dieser.
Der Besitzer des Stands schien gar nicht bemerkt zu haben, dass mein
so passives Geschoß seinen Stand getroffen hatte, lediglich ein paar
Leute um mich warfen mir abschätzige Blicke zu. Sie mussten mich für
betrunken halten.
Wahrscheinlich war es besser, sie in diesem Glauben zu belassen.
Eine blond gelockte Dame drehte sich um, schüttelte den Kopf, hob die
Nase, als wolle sie mit deren Spitze den Gipfel aller Erhabenheit
erklimmen, und lief entrüstet weiter.
Möglicherweise war ihr diese Demonstration wichtiger als ihre Tochter,
die ihr Schritttempo kaum halten konnte und förmlich mitgeschleift
wurde.
Die Kleine sah mir nach, und aus ihren Augen las ich, dass sie ein
wenig beeindruckt war von meinem Mut, in aller Öffentlichkeit etwas zu
tun, was ihr ihre Mutter höchstwahrscheinlich verboten hatte.

Ich verspürte Mitleid – und dieses Mitleid erweichte mein Herz ein wenig.
Entgegen aller Vernunft entschied ich mich, ein Los zu kaufen.
Schließlich war es für einen guten Zweck, da der Überschuss zu einem
großen Teil dem roten Kreuz zu Gute kam.
In dem Stand lief der Besitzer umher und beäugte kritisch die
Menschentrauben, die sich an seinem Stand vorbeischoben. Währenddessen
tauschten zwei junge Mädchen Geld gegen Lose.
Eine von beiden war hübsch, schlank und brünett. Bei ihr standen
auffällig viele Männer an, und für jedes verkaufte Los bedankte sie
sich mit einem breiten Lächeln, wie es künstlicher hätte kaum sein
können.
Das andere Mädchen war in den Augen eines durchschnittlichen
Mitteleuropäers nicht so hübsch wie die brünette Schmalspurdiva, und
so schlank war sie auch nicht. Doch ich mochte ihr Gesicht und die
Ruhe und Besonnenheit, die es ausstrahlte.
Ich gab ihr ein paar Cent mehr, gerade so viel, damit sie sich eine
Kugel Eis davon kaufen konnte. Ihre Augen verrieten mir, dass ihr
Lächeln echt und ihr Dank erst gemeint war.

Ich wusste nicht, warum ich dieses Los gekauft hatte.
Wahrscheinlich wollte ich nur eine Bestätigung dafür, dass die Welt mich hasste.
Das Los war eine Niete.
Mein Trotz aber war beinahe vollends gewichen, und ich erfreute mich
an der Vorstellung, wie das Mädchen mit dem besonnenen Blick heute mit
einem Eis in der Hand nach Hause gehen würde.
Ich lenkte meine Schritte wieder in Richtung Heimat, und ich
beschloss, die Arbeit heute ruhen zu lassen und meine Familie auf
einen großen Eisbecher einzuladen.
Der Gedanke an ein wunderbar kühles Eis mit frischen Früchten,
Schokostreuseln, einer Waffel und einem Schirmchen zauberte mir den
Ausdruck von Urlaub ins Gesicht.

Zu dieser Seite haben beigesteuert: Sparky .
Seite zuletzt geändert am Freitag, 08.Februar 2008 21:07:47.