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Kopflos, unvollendet

BearbeitenHistorie
I

Die Nachricht trifft ein, als er sich noch im Schlaf befindet.
Geweckt wird er von einem lauten Summen, dass nur er hören kann. Er hört es immer, immer wenn es still ist, wenn er schläft, immer dann, wenn er Ruhe zu finden versucht.
Mittlerweile hat er sich jedoch beinah an das immer wieder kehrende Summen gewöhnt, nur manchmal noch reißt es ihn aus den Gedanken, aus dem Schlaf.
Auch diesmal gelingt es ihm das Summen, durch kräftiges massieren seiner Schläfen, in den Hintergrund zu drängen. Leise ist es nun, nicht mehr so penetrant.
„Steh auf!“, sagt eine Stimme. Er öffnet die Augen und im selben Moment begreift er, dass er, und nicht etwa ein Fremder, es gewesen ist, der die befehlenden Worte geformt hat.
Er blickt auf den Nachttisch, auf dem einsam ein zerknittertes Kuvert liegt. Auch daran hat er sich inzwischen gewöhnt. Seit geraumer Zeit schon findet er jeden Morgen, nach dem Erwachen, ein zerknittertes Briefkuvert auf seinem Nachttisch vor. Der Inhalt ist jedesmal das Selbe. Asche. Grau, von schwarz durchsetzt. Kalte Zigarettenasche. Früher einmal hat er sich gefragt, woher die Briefe kommen. Nächtelang ist er wach geblieben, um denjenigen zu erblicken, der die Briefe Nacht für Nacht auf seinem kleinen Tischchen platziert. Doch ist er wach geblieben, so blieben auch die Briefsendungen aus, mimte er sich schlafend so blieben dieselben ebenfalls aus. Irgendwann hat er es aufgegeben, schließlich braucht er seinen Schlaf, auch wenn dieser immer wieder von diesem lauten Summen unterbrochen wird.
Er nimmt das Kuvert und leert dessen Inhalt in eine Urne, die er sich eigens für die Asche zugelegt hat.
Ein, vielleicht zwei Monate noch und er müsste eine weitere kaufen. Er würde wieder das selbe schlichte graue Modell wählen.
„Wen beerdige ich da?“, fragt er sich.
Die kleine, karge Wohnung, die ihm eigentlich nur zum Schlafen dient, fängt wieder einmal an ihn zu beengen. Er muss schnell raus hier, will er doch nicht von den rauen Wänden zerdrückt werden. Eilig steigt er in seine Klamotten. Die Morgentoilette muss warten. Schnell fährt er sich mit den Fingern durch das bereits schütter werdende Haar und flieht mit weit ausgreifenden Schritten aus der Wohnung.
Die Tür fällt hinter ihm laut ins Schloss.
Neonlicht.
Das Summen wird lauter. Er massiert sich wieder rhythmisch die Schläfen, schließt die Augen, versucht das Summen in den Hintergrund zu drängen. Doch diesmal hilft es nicht. Neonlicht lässt sich nur schwer überlisten.
Er hat gehofft es niemals wieder tun zu müssen, aber das Summen drängt und schneidet Scheibchen von seinem Ich.
Er steckt sich beide Finger in die Ohren und beginnt seinen Kopf aufzublasen.
Die Konturen seines Gesichtes verzerren sich, der Kopf wächst und läuft hochrot an, bis er schließlich explodiert.
Sein Körper prallt mit dem Rücken an die Wand und sinkt langsam zu Boden. Da sitzt er nun. Sein Kopf irgendwie verteilt. Das Summen drängt weiterhin, lässt keine Ruhe. Selbst jetzt.
Nur nicht den Kopf verlieren, nur nicht den Kopf verlieren, hat er sich damals so oft gesagt.


II

Eine Brutstation. Der Säugling öffnet die Augen. Neugierig blickt sich das Augenpaar um, nimmt die Umgebung in sich auf.
Kann er schon staunen?
Ein rießiges Paar beharrter Hände öffnet den Brutkasten und umfasst den Säugling. Bestimmt und routiniert wird er aus dem Brutkasten gehoben.
Er schläft ein.
Als er das nächste Mal erwacht, ist er schon lange kein Säugling mehr, sondern ein Junge von zwölf Jahren.
Er hatte einmal eine Mutter, einen Vater.
„Sie waren immer nett zu dir, aber sie sind gestorben“, flüstert sein Gedächtnis. „Das Haus ist damals niedergebrannt, weil du mit dem Feuer spielen musstest. Sie waren im Haus.“
Der Junge verbirgt den Kopf zwischen den Händen und fängt an zu weinen. Er kann sich an den beißenden Geruch und an die schwarzen Trümmer erinnern. Er erinnert sich, wie er die Leichen seiner Eltern im Ehebett gefunden hat. Schwarz, noch warm. Das Feuer hat sie im Schlaf überrascht. Ihn hat es nicht erwischt, auch wenn er es sich seither schon so oft gewünscht hat. Die Flammen waren noch nicht einmal in seine Nähe gekommen, Hitze hat er nicht gespürt.
Die Tür zu seinem Zimmer wird aufgestoßen. Ein Mann tritt ein, geht schnellen Schrittes auf den Jungen zu, packt ihn am Kragen und zerrt ihn auf die Beine. Der Junge erinnert sich an diese Hände. Schon einmal haben ihn diese Hände gepackt, haben ihn schon einmal aus seinen Gedanken gerissen. Doch die Erinnerung ist nicht greifbar, er kann sie nicht halten.
Der Mann stößt ihn grob vor sich her, schlägt ihm auf den Hinterkopf, führt ihn so aus dem Zimmer.
Am Ende des grüngetünchten Ganges steht eine Tür offen. Sie führt zum Speisesaal weiß der Junge. Er betritt auf Befehl des Mannes den Saal und setzt sich auf seinen Platz.
Er beobachtet wie der Mann zu einer streng dreinblickenden Frau, die wachend am Eingang des Speisesaals steht, geht.
„...wir sind nicht da, um...“, hört er ihn noch sagen, bevor seine Stimme im Gemurmel der übrigen Waisenkinder untergeht.
Eine vom Spülen raue Hand stellt eine dampfende Schüssel vor den Jungen auf den Tisch, dazu kommt ein Löffel aus Plastik. Er schüttelt den Kopf. Plastiklöffel... Als ob es nicht schon schwierig genug wäre sich mit metallenen zu verletzen. Seit Jahren schon ernährt er sich nur von Suppe und Eintopf. Er sieht wie die anderen mit Messer und Gabel hantieren, wie sie mit einem Lächeln auf den Lippen das zarte Lammfleisch zerteilen, während er sich mit dieser wässrigen Suppe begnügen muss. Das Getratsche und das Gelächter der Kinder übertönt seine Gedanken. Sie sind so laut, unerträglich laut.
Er rammt seinen Löffel in die Schüssel. Der Löffel bricht. Sein Stuhl wird auf den Boden geschmissen, als er heftig aufsteht. Die Gesichter wenden sich ihm zu. Am anderen Ende des Saals kommt Bewegung auf. Die Pfleger sind zu ihm unterwegs. Sie wollen ihn nur wieder ruhig stellen, doch er ist schneller. Er dreht sich auf dem Absatz um, beugt seinen Kopf nach vorne und rennt mit aller Wucht gegen die nächste Wand. Das letzte was er noch mitkriegt ist das Geräusch seiner brechenden Schädeldecke, danach nichts mehr.


III

„Hier, an dieser Wand, das ist mein Blut, wissen sie?“, sagt der alte Mann zu seiner Begleiterin. „Und zwei Blocks weiter haben sie mich vor drei Tagen auch schon nach draußen getragen, in einem Sack. Ach ja, in einem kleinen Kaff, nicht weit von hier, liege ich noch, glaube ich. Wir können es uns nachher ansehen, wenn sie wollen, aber jetzt brauch ich erstmal einen Kaffee.“
Der Frau scheint übel zu sein, dennoch nickt sie wortlos. Wahrscheinlich würde ihr jetzt ein Kaffee und viel mehr noch eine Zigarette helfen das Entsetzen ein wenig in den Hintergrund zu drängen.
Sie wirft noch einen letzten Blick in das karge Zimmer. Das Briefkuvert liegt noch immer auf dem Nachttisch, allerdings ist es jetzt leer. Dann wendet sie sich ab und folgt dem gebäugten Mann.

Im Café suchen sie sich einen Tisch ein wenig abseits der restlichen Gäste. Die Frau bestellt zwei Tassen Kaffee. Sie sehen sich nicht an, während sie auf die Bestellung warten. Die Frau ist im tiefen Nachdenken versunken und der Mann lässt ihr Zeit.
Sie sind heute schon weit herumgekommen. Der Mann hat der Frau viele karge Zimmer gezeigt, einmal auch ein Kinderzimmer, ein Waisenhaus, Gleise, eine Brücke, mindestens fünf verschiedene Hochhäuser und sie sind noch lange nicht fertig.
Wieviele Schauplätze gibt es wohl noch?, fragt sie sich. Sie schüttelt den Kopf. Der Mann hatte sie vorgewarnt. Zu Beginn des Tages, als er plötzlich vor ihr Wohnung gestanden hatte, sagte er, dass er sich möglicherweise, sollte das Summen heute wieder stärker werden, das Leben nehmen müsse.
„Aber heute hab ich noch keine Post gekriegt“, meinte er mit einem zwinkern in den Augen, „sie müssen sich also nicht allzu große Sorgen machen.“
Die Frau zuckt zusammen, als die Bedienung den Kaffee serviert. Schnell nimmt sie einen großen Schluck und verbrennt sich den Mund. Leise fluchend stellt sie die Tasse zurück auf den Untersetzer und kramt in ihrem Rucksack nach ihren Zigaretten. Eine Minute später kommt ihr Kopf wieder zum Vorschein. Triumphierend steckt sie sich eine Zigarette an und zieht den Rauch hastig und dankbar ein.
„Daran sterben jährlich viele Menschen“, sagt der Mann mit einem Nicken zur Zigarette hin. Sie lacht hysterisch. „Na und, du stirbst beinah täglich an dir, ich wenigstens nur einmal durch diese verfluchten Kippen. Was ist wohl besser?“

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Seite zuletzt geändert am Donnerstag, 07.Februar 2008 21:48:35.