Die Zeit ging
Die Zeit gingIch bin eines morgens aufgestanden und hab' die Uhr ignoriert. Ich habe sie keines Blickes gewürdigt, ihre manchmal anklagende, von Zeit zu Zeit doch Freude ausstrahlende Miene missachtet. Ja, ich wusste, sie hängt dort an der Wand, aus Erfahrung von vergangenen Zeiten wusste ich das. "Hätte sie eine Stimme, würde sie rufen", dachte ich mir. Ich kochte mir einen Kaffee und suchte mir aus, wie spät es war. Unwahrscheinlich praktisch, so eine nicht-sprechende Uhr... Ich stand am Fenster, meine Kaffeetasse dampfend in der Hand und dachte an all die Dinge, für die man keine Zeit braucht. Kaffee kochen zum Beispiel. Die Nase weiß schon, wann er fertig ist. Oder Eier kochen - das hat man im Gefühl, wann das Ei weich ist...Bäume haben keine Uhr und sie wissen auch, wann der Winter kommt. Es war so ruhig ohne Zeit, so ur-gemütlich. Plötzlich brach der Sturm in meinem Kopf los. Das musste die Uhr sein, die nach Beachtung schreit. Ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit, ihr Anspruch auf die Alleinherrschaft bei der Regierung meines Tages liess sie rasend mit den Zeigern wirbeln (aha, dachte ich, die Zeit rast...), telepathisch sandte sie mir Bilder in Sekundenschnelle von fahrenden Zügen, Öffnungszeiten von Büros, Terminplanern und Stoppuhren, ich sah Menschen blitzschnell altern, Musik verrann im Hintergrund meiner Gedanken und über allem zerfloss eine Dali-Uhr wachsgleich im Abfluss der Zeiten. Die Uhr warf mit römischen Ziffern um sich, Kalenderblätter und Wecker vermischten sich zu einem Wirbelwind um mich herum und ich hatte Mühe, nicht von der Zeit verschlungen zu werden. In meinem Kopf passierte das alles. Für einen Moment wollte ich mich davon überzeugen, dass ich noch ganz richtig in meinem Kuckucksstübchen war. Sieh nach, ob die Uhr wirklich durchdreht, verlangte die Stimme in meinem Kopf. Ich sah immer noch nicht hin. Sah aus dem Fenster. Stundenlang, schien es mir. Gelegentlich hörte ich die Uhr leise flüstern, dann und wann schaltete sie auf stur und wiederholte monoton denselben Satz - schau mich an, schau mich an, schau mich an. Ein Satz pro Sekunde. 60 beats per minute. Ich blieb am Fenster stehen. Was sind das bloß für Zeiten... Irgendwann am Abend hab' ich dann doch hingeschaut. Und sie war verschwunden. Wie eine Katze, die sich ein neues Zuhause sucht, wenn sie sich nicht mehr beachtet fühlt. Wenn sie weiß, sie ist nicht mehr erwünscht.
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